Freunde und Förderer des Nationaltheaters Mannheim

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Tine Rahel Völcker, 2005/2006

Tine Rahel Völcker Hausautorin am Nationaltheater 2005/2006
Tine Rahel Völcker
Hausautorin am Nationaltheater 2005/2006

Wer ist Tine Rahel Völcker?

Die Theaterlaufbahn

Tine Rahel Völcker wurde 1979 im Westberliner Stadtteil Reinickendorf geboren. Nach dem Abitur studierte sie „Szenisches Schreiben“ an der Universität der Künste in Berlin.

Im Rahmen einer szenischen Lesung kam es 2001 zur Aufführung ihres ersten Theaterstückes „Fünf Kerzen für M.“ am Uraufführungstheater des Staatsschauspiels Dresden. Es folgten weitere szenische Lesungen, unter anderem von dem Stück „Kreuzotter“. 2002 erhielt Völcker den Förderpreis der Kulturstiftung der Dresdner Bank. Im folgenden Jahr entstand das Stück „Frau Vivian bestellt eine Coca“, das am Nationaltheater Mannheim uraufgeführt wurde. „Die Eisvögel“ wurde 2004 am Theater der Stadt Aalen uraufgeführt und als Hörspiel bei dem Sender NDR vertont. In der Spielzeit 2005/ 2006 war Tine Völcker mit einem festen Engagement Hausautorin am Nationaltheater Mannheim. Im Zuge dessen wurde ihr in Mannheim entstandenes Theaterstück „Charlotte sagt: Fliegen“ uraufgeführt. Ihre neusten Werke „Steppenglut“, „Die Höhle vor der Stadt in einem Land mit Nazis und Bäumen“ und „Albertz“ wurden auf der Landesbühne Niedersachsen Nord und im Nationaltheater Weimar uraufgeführt. Im Februar 2009 wirkte sie im Rahmen eines eigenen Kulturprojekts Namens „Kolonialhotel“ am Schauspielhaus Leipzig.


Ein Selbstportrait

Bei dem Projekt „Kolonialhotel“ geht es um eine Stückentwicklung zusammen mit den Bürgern der Stadt Leipzig. Zu diesem Zweck stellte sich die Theaterautorin einmal vor:

„Ich bin DIE DICHTERIN.
Ich schreibe ein WERK über LEIPZIG
HIER SCHEIBT FÜR SIE UND MIT IHNEN TINE R. VÖLCKER
Wir liefern ein Kulturangebot
Kulturangebot im Einkaufscenter
Kulturangebot im Theater wo ist der Unterschied

Ich sage: ich bin Tine R. Völcker. Völcker-Schlacht. Man braucht einen Namen in dieser primitiven Ethnie – die Eingeborenen sind ganz versessen darauf, einander zu erkennen und zuzuordnen. Ich bin. Du bist. Wir ahmen ihr Verhalten nach. Große Erkenntnis des zweiten Tages: wir erreichen Akzeptanz über die klare Zuschreibung. Name. Völcker. Ok. Ja.“

Während das Ziel dieses Schaffensprozesses: ein Theaterstück(!) eher konventionell zu sein scheint, ist der Prozess selbst doch recht außergewöhnlich. Zunächst einmal ist eine Stückentwicklung immer noch ein eher selten gegangener Weg um ein Theaterstück auf Papier zu bringen. Zudem wurde das Stück nicht etwa mit Schauspielern und Regisseuren entwickelt, sondern gleichsam mit dem Publikum: im Einkaufscenter des Leipziger Hauptbahnhofs. Es war ein Aufeinandertreffen, Diskutieren und Anregen mit den Bürgern der Stadt auf dessen Ergebnis man gespannt sein darf.

Diese Art des Schreibens charakterisiert die Theaterautorin. Denn was ihr am Schreibprozess wichtig ist, ist „das grundsätzliche Ausscheren aus einer von außen auf das Theater als Institution projizierte Berechenbarkeit“. „Es wird nach dem Künstler und der Kunst jenseits fragwürdiger Verwertungszusammenhänge gesucht.“


Charakteristika von Völckers Theaterstücken

Hauptthema: Das Individuum in der Gesellschaft auf der Suche nach Glück

Zeit: Auf einen genaueren Zeitpunkt lässt sich das Stück selbst fast nie festlegen. Eine Ausnahme ist „Albertz“, in dem die politische Karriere des Berliner Bürgermeisters Heinrich Albertz in den 1960er Jahren beschrieben wird.

Charakteristisch für Völckers Theatertexte ist, dass die Zeit oftmals die so genannte „Zeit dazwischen“ ist, Zeit, in der die Figuren viel von eben dieser haben.

Charaktere: Was die Charaktere betrifft, so folgt Völcker der Tschechow-Tradition: Im Allgemeinen ist nicht die Handlung das Wichtigste, sondern die Figuren. Oft handelt es sich um soziale Aussteiger, Verweigerer von Konsum und Kapitalismus und (in der Gesellschaft) Verlorene. Aus der Konzentration auf die wohl gezeichneten Charaktere folgt zwangsläufig, dass auch die Beziehungen zwischen ihnen eine zentrale Rolle in Völckers Stücken einnehmen. Dabei handelt es sich meist um Beziehungsgefechte in Form von komplizierten Paar-, Dreier-, oder Familienkonstellationen.

Gesellschaft: Die Personen befinden sich in einer einengenden Gesellschaft, die sie an ihrem persönlichen Streben nach Selbstverwirklichung und Glück hindert. Zwangsläufig muss diese deshalb verweigert werden oder aus ihr ausgebrochen werden. Ein Ausweg findet sich vor allem durch die Flucht in die Natur.

„Plötzlich die Sehnsucht nach Natur. Bäume sehen! Himmelfläche. Weidenfläche. Schmerzfläche. Lust. Hinaus ins Grün. Achtlos über Laub. Bis außer Atem. Grundlos lachen. Sich halbtot lachen. Aus dem Schlafwandel erwacht plötzlich merken: Ich bin schon zu weit gelaufen. Hunger und quälende Lust auf Kaffee und Butterbrot, eine Stärkung. Um mich herum nur die blöde Natur.“ (Textauszug aus „Steppenglut“)

Zugleich wird diese aber wieder desillusioniert und der Charakter befindet sich wieder einmal im Nirgendwo.

Raum: Beim Raum handelt es sich folglich um Gebiete wie Stadt und Land. Aber auch hier gibt es so etwas wie den „Raum dazwischen“: es entsteht ein Schwebezustand der Orientierungs- und Heimatlosigkeit.

Schreiben: Völckers Schreibstil lässt sich vor allem durch kurze Szenen und leichte, pointierte Dialoge beschreiben. Neben den äußeren Anforderungen an ein Theaterstück legt sie besonderen Wert auf die Poesie des Werks.


Völcker am Nationaltheater Mannheim

„Frau Vivian bestellt eine Coca“: Dieses Theaterstück wurde 2003 am Nationaltheater uraufgeführt.
„Muttertag. Mit kanarischem Vogelgezwitscher von einer CD versucht Iris ihre Mutter abzulenken, Lothar hat immerhin Fleurop bemüht. Aber Frau Vivian kann auf solchen Trost verzichten. Sie braucht auch keine künstliche Mutter-Tochter-Nähe, sie will nur ihren Mann zurück. Gerade waren sie noch wie immer in den Sommerferien zu dritt an der Nordsee, das Lehrerpaar mit dem inzwischen fast erwachsenen Kind – jetzt ist Lothar abgehauen und die Familie kaputt. Frau Vivian, ohnehin angeschlagen von klimakterischen Selbstzweifeln und Gefühlsschwankungen, stochert verbittert in der Vergangenheit. Doch die Wahrheit wagt sie kaum zu denken: Ein intimes Verhältnis zwischen Tochter und Vater hat alles zerstört. Vielleicht war auch Frau Vivians Liebe nie groß genug für zwei. Mit zynischen Attacken reagiert sie sich nun an ihren Schülern ab, quält sich und andere bis zur Schmerzgrenze. Auch Iris ist mit der Situation überfordert, erst recht als Jost auftaucht, ein Klassenkamerad, der sich in Iris verliebt hat und (Auf-)Klärung verlangt... Frau Vivian bestellt eine Coca und dreht den Spieß um.“ (www.theatertexte.de)

Damit wird klar, dass es in diesem Stück vor allem um Themen wie Familie und Beziehungen und den damit verbundenen Gefühlen geht. Die Aufgabe des Individuums besteht darin sich zunächst in der Familie und dann in der Gesellschaft zurechtzufinden und zu integrieren.

„Charlotte sagt: Fliegen“ ist im Rahmen ihrer Hausautorenzeit am Nationaltheater Mannheim (2005/ 2006) entstanden und uraufgeführt worden.
„Charlotte will: sich das Leben immer wieder neu erfinden. Charlotte will: ihre Familie verleugnen. Charlotte will: vorgestern das letzte Mal gegessen haben. – Charlotte verdrängt ihr eigentliches Leben so weit, dass sie selbst nicht mehr weiß, was leben eigentlich bedeutet. Ein Teil davon ist ihr Körper, dessen letzte Fettreserven an den Oberschenkeln zu finden sind. Charlotte will leicht sein, alles was sie am Boden der Tatsachen festhält, fegt sie selbstzerstörerisch hinweg. Ihren Lebensinhalt findet sie im Verdrängen und Verdrehen von unangenehmen Wirklichkeiten. Um ihre Familie zu beruhigen, übernimmt sie einen Job nach dem anderen: Sekretärin, Pflegerin oder Arbeiterin in einer Keksfabrik – in keinem der angeblichen „Führungsposten“ hält sie es aus. „Wo ich vorher gerne war, will ich nie wieder sein. Am nächsten Tag wird gekündigt. Der Chef ist einigermaßen traurig. Geweint wird zu Hause.“ Ein seelenwunder Grundton durchzieht das ganze Stück, gebrochen durch Charlottes sarkastischen Witz gegen sich und die anderen. Charlotte will keine Hilfe. Ob bei Niklas, ihrem Hausarzt, mit dem sie ein Verhältnis, später eine Ehe eingeht oder bei Boris, ihrem antriebslosen Trinkerfreund – überall stiftet sie Verwirrung und Unsicherheit. Wenn Charlotte da war, ist nichts mehr, wie vorher: Niklas bringt sich um, auch Boris überlebt das nicht und ihr Bruder Julius, der sich voller Sorge und Zuneigung in ihr Leben drängt, sitzt seit zehn Tagen eingeschlossen in Charlottes Badezimmer fest.“ (www.theatertexte.de)

Eingerahmt wird das Stück durch die Anfangs- und Schlussszene zu Charlottes dreißigstem Geburtstag, an dem sie das vorhergehende Jahr Revue passieren lässt. Am Ende feiert sie ihren Geburtstag alleine am Haus am Meer und freut sich über ihre Fähigkeit Leute verschwinden zu lassen. So geht es in diesem Stück um mehr als die Magersucht der Protagonistin, wie der Titel zunächst vermuten lässt. Durch die drei Charaktere werden verschiedene Lebensentwürfe kontrastiert, in Beziehung gesetzt und auf Vereinbarkeit überprüft. Mehr noch geht es jedoch um das was unter „Leben“ verstanden wird, um die subjektive Definition von Leben. Charlotte, energiegeladen und willensstark, kann mit den ihr entgegen gesetzten Lebensentwürfen ihrer Umgebung nicht glücklich werden und versucht deshalb ihr Glück im Verdrängen zu finden. Das artet letztlich aber in Lebenslügen aus und lässt sie am Ende alleine da stehen.


Völckers Sicht auf das Theater

Tine Rahel Völcker zählt zu den bedeutenden deutschen Jungdramatikern unserer Zeit. Mit einem Brief an die Kritiker („Liebe Kritiker“ eine Replik auf den Artikel `Wir sind kein Volk´ im September 2005“ erschienen in Theater der Zeit, Dezember 2005) verdeutlicht sie, was es bedeutet, Jungdramatiker in Deutschland zu sein und erklärt, was für sie das Theater ausmacht.

Dass Redaktionen und Kultureinrichtungen die Jungautoren meist eher verachten und genervt reagieren, daran habe man sich gewöhnt. Die hohen Ansprüche an die jungen Autoren bleiben aber weiterhin bestehen. So sollen die Theaterstücke der Gesellschaft etwas liefern und diese in vollem Umfang betreffen. Auch habe sich mittlerweile eine Art Pisa-Bewertung in die Dramatik eingeschlichen: die deutschen Jungdramatiker sollen in internationalen Vergleich gut abschneiden. Diese Anforderungen und insbesondere die Forderung nach etwas Allgemeingültigem lasse einen so hohen Druck entstehen, dass es oftmals dazu kommt, dass überhaupt kein Text entsteht. Tine Rahel Völcker möchte aus eben dieser Berechenbarkeit des Theaters ausbrechen. Damit definiert sie Theater als Freischlag und ist auf der Suche nach dem Einzelwesen. Fragen wie „Was bestimmt uns (mich)? Wem geben wir (ich) Macht über uns (mich) Und weshalb?“ lohne es sich nachzugehen. Wenn ein Text mit dieser Themenvorlage schließlich entsteht, ist ihr die Poesie der Sprache und die präzise Ausdrucksweise dabei besonders wichtig. Denn schließlich ist das Verfassen eines Theatertextes auch Kunst.

Anna Brechtel (Teilnehmerin des Proseminars „Von Friedrich Schiller bis Jan Neumann. Hausautoren am NT, Januar 2009)